Mitgefühlsbasierte Meditation

Alle abgebildeten Abschluss- und Hausarbeiten im Spiritainment sind, wie auch diese, im Rahmen von Inner Flow Ausbildungen entstanden. Sie sind weiter geistiges Eigentum der Autor*innen und werden mit deren freundlicher Genehmigung hier veröffentlicht.
Inhalt

Alles ist Liebe, sagt man.

Alles ist Licht.

Doch rein ist sie nur

wo alles ist Nicht.

Robert Harsieber

1. Einleitung

Focusing with perfect discipline on friendliness, compassion, delight, and equanimity, one is imbued with their energy.

Patanjali III 24

Die Wahl dieses Themas ist Lebenseinstellung und gründet sich auf persönliches Interesse. Gerade in Zeiten von Krisen, von Kriegen, von Informationsflut möchte ich den Fokus bewusst nicht auf Konflikte legen, sondern von einem positiven Verständnis von Mensch und Welt ausgehen. Nicht um schön zu reden, nicht um die Augen zu verschließen, aber um dem tiefen Wissen nachzuspüren, dass die Kultivierung von Gutem Gutes produziert und dass dieses Gute jedem und allem zu Grunde liegt. Patanjali betonte es und auch jede Weltreligion predigt Liebe und schreibt dem Herzen eine zentrale Rolle zu.

Metta bhavana bedeutet die Kultivierung von liebender Güte. Genau dieser Kultivierung widmet sich die vorliegende Arbeit, um folgende Fragen zu stellen:

Was ist liebende Güte und Mitgefühl? Wie wirkt es? Wie kultiviert man es? Was ist die darin liegende Wirkungsmacht oder ambitioniert ausgedrückt das Welt transformierende Potential? Und inwiefern ist Einheitsbewusstsein Herzbewusstsein?

Große Fragen auf wenigen Seiten… während meiner Recherche bin ich auf wahre Schätze von Forschungsquellen gestoßen, die zeigen wie brisant das Thema auch in der Neurowissenschaft und positiven Psychologie behandelt wird. Die Forschungs-, Erfahrungsberichte und Trainingsprogramme zogen mich dermaßen in den Bann, dass ich dabei blieb und liebende Güte und Mitgefühl als dem Buddhismus entlehnte (oder nahe stehende) Konzepte betrachte, obwohl der ursprüngliche Plan war, auch einen vergleichenden Blick auf das zentrale Konzept von Liebe und Nächstenliebe im Christentum zu werfen. Ein ganz persönlich motiviertes Interesse an dem Thema ergibt sich aus meiner eigenen Meditationspraxis. Ich begann vor über 10 Jahre mit der buddhistischen Einsichtsmeditation Vipassana nach Goenka, in deren Zentrum die Schulung des Geistes in Achtsamkeit und gleichmütige Betrachtung von Empfindungen als sich ständig verändernde Materie, steht. Am vorletzten Tag dieses 10 Tages Retreats wird Metta bhavana eingeführt, sozusagen als Balsam für die wunden Seelen (da Vipassana als reinigende Praxis ziemlich aufwühlend wirken kann). So funktional, physisch, direkt erfahrbar Vipassana für mich persönlich wirkt, so „floskelhaft“ und unpersönlich erschien mir mehrere Jahre die Metta Meditation, da sie sich an bestimmten immer gleichen zu wiederholenden Sätzen orientiert. Zumindest im Vipassana (nach Goenka) Kontext wird kaum über „körperliche Mechanismen“ gesprochen. Die Frage was „tue“ ich, wenn ich Metta bhavana praktiziere, hat mich mehrere Jahre begleitet. Ich fragte mich worin der Unterschied zu Affirmationen lag? Erst als ich mich vor ca. 3 Jahren „freieren“ (im Sinne von nicht EINER Traditionslinie folgenden) Praktiken und Lehrern zuwandte hat sich auch mein „körperliches“ Verständnis erweitert. Durch die jetzige Yoga Lehrer Ausbildung wurde mir die Kraft und Dimension von Metta noch einmal ganz anders bewusst. Irgendwann fiel der Satz „Verbundenheit ist Heilung“. Einheitsbewusstsein ist letztendlich nichts anderes als Verbundensein mit sich und der Welt. Der Fokus auf Metta, der sich während der Ausbildung für mich persönlich immer mehr herauskristallisierte, lässt mich dieses Verbundensein erahnen. Im gleichen Zuge öffnete sich mein Fokus viel stärker für die ständigen Konflikte und das Leid meiner Umwelt, sei es zwischenmenschlicher Art oder die tagtäglichen Gewohnheiten im Umgang mit sich und anderen. Manchmal bin ich sprachlos, manchmal fühle ich mich hilflos. Die Beschäftigung mit diesem Thema scheint einen Ansatz zu versprechen. Let’s begin…

2. Herzensangelegenheiten

Wir fassen uns ein Herz, tragen es auf der Zunge, manchmal rutscht es uns in die Hose, so dass wir es heftig klopfen hören. Wir kennen Menschen die ein Herz aus Gold oder auch aus Stein haben. Manchmal haben wir das Bedürfnis unser Herz jemandem auszuschütten, obwohl wir es eigentlich gerne verschenken würden. Und dann fassen wir uns ein Herz und nehmen es in die Hand.

Die Rede vom Herzen ist in aller Munde. Und dennoch sind wir meistens weit entfernt von einer engen Verbindung zum Herzen – es sei denn es schmerzt oder wird krank. Die Wechselwirkung vom Herzen als medizinisches Organ oder als empfindendes Seelenorgan ist längst neurowissenschaftlich belegt: „Körperlicher Schmerz und psychischer Schmerz bilden sich in den gleichen neuronalen Netzwerken und fühlen sich auch ganz ähnlich an. Demnach können sie auch auf gleiche Weise beeinflusst werden.“ (Mannschatz, Baur, S.12) Macht man sich diese Verbindung bewusst, wird deutlich, welchen Stellenwert man dem Herzen geben sollte. Sämtliche Urvölker tun es und auch die Weltreligionen sprechen dem Herz eine zentrale Rolle zu. Jesus beklagte die Verhärtung der Herzen und predigte Liebe und Nächstenliebe. Und laut Buddha gehen vom Herzen alle Dinge aus. Der Buddhismus hat eine eigene Praxis entwickelt das Herz zu erwecken:

2.1 Ursprung und Bedeutung der buddhistischen Mettameditation

Wem klargeworden daß der Friede des Herzens das Ziel seines Lebens ist

Sutta Nipata 143

Der Legende nach schickte der Buddha eine laute, übermütige Gruppe von Mönchen, die in ihrer Meditation stagnierten, in den Wald. Nach einer Woche kamen sie zurück und beklagten sich über mangelnde Ruhe und ständige Missgeschicke im Wald, so wie Gefühle von Angst, Unsicherheit und Verzweiflung. Der Buddha erklärte ihnen, dass sie es mit Devas (Geistern) zu tun gehabt hätten, die sie vertreiben wollten. Er gab den Mönchen zum Schutz das Metta Sutta, das sie nicht nur rezitieren, sondern auch beherzigen sollten. Die Mönche übten grenzenlose Liebe und Wohlwollen gegenüber allen Lebewesen auf der Welt. Daraufhin beruhigten sich die Devas und die Mönche konnten ungehindert meditieren, erfreuten sich am eigenen Wohlergehen und der uneingeschränkten Freundlichkeit, die ihnen fortan in der Welt begegnete (Vgl. Bodhibaum 1).

Metta kommt aus dem Pali (altindische Sprache zu Zeiten Buddhas) und wird übersetzt mit „Herzenswärme“, „liebende Güte“, „Freundschaft“ (Vgl. Bodhibaum 3). Der Buddha maß der Metta Meditation (oder liebende Güte Meditation oder Herzmeditation) einen erheblichen Stellenwert zu, was schon daran fest zu machen ist, dass er diese öfter erwähnte, als die Achtsamkeit über den Atem. Einige erfahrende Meditierende und Meditationslehrer, wie der buddhistische Mönch Bhante Vimalaramsi berichtet, dass er sich zu einem Zeitpunkt Metta widmete, als andere Meditationstechniken, wie beispielsweise die Achtsamkeitsmeditation Vipassana, ausgeschöpft war (da er laut seinen Lehrern das höchste Ziel erreicht hatte) (Vgl. Vimalaramsi). Die Autorin und Meditationslehrerin Marie Mannschatz, die zwanzig Jahre Achtsamkeits- meditation unterrichtete, bevor sie ihren Schwerpunkt auf Metta legte, betont dass in den Metta Meditationgruppen eine deutlich andere Atmosphäre herrsche als in reinen Achtsamkeitsgruppen:

„In der Herzmeditation können sich die Menschen leichter entspannen, ihre überhöhten Ansprüche werden früher aufgedeckt. Es wird kaum über Schmerzen beim Sitzen geklagt. (…) Körperbeschwerden bekommen einfach nicht so viel Spielraum, weil die Aufmerksamkeit zu den guten Wünschen hin gelenkt wird. Durch die klare Struktur der Metta-Sätze gehen die Gruppenmitglieder nicht so leicht in ihrem inneren Raum verloren – die Metta-Sätze sind „ein Geländer“, an dem entlang sie sich bewegen können, und vermitteln innere Stabilität. Und weil alle darauf fokussieren, gut mit sich selbst umzugehen, entsteht auch im Miteinander in der Gruppe eine warmherzig-wohlwollende Atmosphäre.“ (Mannschatz, S. 20) 

Dennoch ist die Metta Meditation untrennbar mit der Achtsamkeitsmeditation verbunden. Nur wer achtsam ist, lernt zu beobachten, sich selber zuzuhören, vermag die Wahrnehmung immer feiner und schärfer werden zu lassen und schließlich auch das Herz zu öffnen.

Metta kann viel, aber nicht einzig und allein. Im Buddhismus spricht man von den Brahma- viharas (pali: „Die vier himmlischen Verweilenszustände“ oder „Die vier Unermesslichen). Diese vier zu kultivierenden Geisteshaltungen (die in den Sutten, den Originalreden des Buddha erwähnt werden) gelten in den buddhistischen Traditionen Theravada und Maha- yana als Grundlage für Meditationsübungen. Diego Harngartner, der Leiter des Mind&Life Institute in Zürich definiert diese vier Brahmaviharas folgendermaßen (mit ihren jeweiligen Sanskrit/ Pali Begriffen):

  • Liebende Güte (Skt. maitri/Pali metta) ist der tief gefühlte Gedanke: „Mögen alle Wesen Glück und die Ursachen für Glück haben.“
  • Mitgefühl (Skt./ Pali karuna) ist der gefühlte Gedanke: „Mögen alle Wesen frei von Leid und den Ursachen von Leid sein.“
  • Freude (Skt./ Pali mudita) ist der Wunsch: „Mögen alle Wesen Freude haben und gedeihen und möge sich ihr Wohlbefinden kontinuierlich verbessern.“
  • Gleichmut (Skt. upeksa, Pali uppekha) ist das Verständnis, dass sich jedes Wesen wünscht, glücklich zu sein, und lautet deshalb: „Mögen alle Wesen überall Wohlergehen und Gedeihen erleben.“ (Harngartner, S. 164)

Wie in den folgenden Kapiteln deutlich wird, sind die Vier Unermässlichen kaum voneinander zu trennen, beeinflussen und stärken sich gegenseitig. Auch wird beispielsweise Liebende Güte praktiziert, um das Mitgefühl zu stärken. Dennoch ist ein Bewusstsein für möglicherweise unterschiedliche Ausprägungen wichtig. Harngartner warnt: “Konzentriert man sich zu sehr auf das Mitgefühl, kann dies zu Schwermut und Traurigkeit führen. Dann sollte man seine Meditation stärker auf die Freude konzentrieren. Und wenn die Meditation zu stark auf Freude gerichtet ist und man dabei ruhelos wird, sollte man die Konzentration auf Gleichmut verlagern. Fühlt sich Gleichmut hingegen zu matt an, wird zu einer Konzentration auf die liebende Güte geraten.“ (Harngartner, S. 168) Vimalaramsi betont, dass Metta direkt zum Erleben von Nibbana führen kann, wenn alle Brahmaviharas kultiviert werden. Und auch die deutsch-buddhistische Nonne Ayya Khema betont die Wirkungsmacht von Metta, wenn es nicht bloße geistige Übung bleibt. Wenn liebende Güte in Gedanken, Worte und Handlungen übergeht, hat sie letztendlich das große Potential die Ich Identifikation aufzulösen. (Vgl. Kema, S. 166) Doch auch schon weniger hoch gesteckte Ziele, z.B. ein Mehr an Dankbarkeit, Freude und Vertrauen, sind Auswirkungen der Metta Meditation, die auch seit einigen Jahren durch die neurowissenschaftliche Forschung untersucht werden.

2.2 Training compassion – aktuelle Forschungen

Der Nutzen von Meditation ist längst wissenschaftlich belegt. Dabei geht es mittlerweile gar nicht mehr darum, ob Meditation einen Effekt hat, sondern welche Meditation auf welche Weise wirkt und nach welcher Zeit sich Veränderungen zeigen. Die Leiterin des Max- Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, Tania Singer, hat in einer groß angelegten Studie die Auswirkungen der Metta Meditation ergründet. Unter www.compassion-training.org ist der aktuelle wissenschaftliche Stand, Trainingsprogramme, Praxisberichte, ein frei zugängliches multimediales E-book (mit 557 Seiten) und der Film Raising Compassion, den die Wissenschaftlerin gemeinsam mit dem Künstler Olafur Eliasson entwickelte, einzusehen. Das E-Book geht auf den Workshop „How to train compassion“ zurück, zu dem buddhistische Mönche, Forscher, Künstler und Psychotherapeuten 2011 zusammen kamen, um die Relevanz und das Potenzial von Mitgefühl in der heutigen Gesellschaft zu diskutieren. Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt, die unterschiedliche Ansätze von Mitgefühl beleuchten. Der erste Teil berichtet von den Erfahrungen von mitgefühlsbasierten Programmen, die u.a. mit Menschen kurz vor dem Lebensende, schwer Erkrankten oder Lehrern und Schülern durchgeführt wurden. Der zweite Abschnitt umfasst einen Überblick über verschiedene Modelle und Ansätze unterschiedlicher Mitgefühlskonzepte – einschließlich evolutionärer, buddhistischer, neurowissenschaftlicher und psychologischer Perspektiven. Der nächste Teil widmet sich der Mitgefühlsforschung. Hier werden empirische wissenschaftliche Studien zusammengefasst, wiederum aus den verschiedenen Disziplinen. Das Kapitel beleuchtet auch Themen wie Stress, Burnout und subjektives Wohlbefinden. Der letzte Teil umfasst Mitgefühlstrainingsprogramme, die an verschiedenen Universitäten und Institutionen entwickelt wurden. (Singer & Bolz, S. 16)

Auch wenn dieses großzügige Dokument eine wahre Schatztruhe mit über 500 Seiten bereitstellt, beschränke ich mich in sehr knapper Form auf einige Kernaussagen, um diese in Bezug zu dem Thema dieser Arbeit zu stellen.

2.2.1 Mitgefühl versus Empathie

In der seit einem Jahrzehnt weltweit durchgeführten Empathieforschung wurde herausgefunden, dass beim Betrachten von leidvollen Bildern oder Videos (egal ob bekannter oder unbekannter Personen), sowohl beim Betrachtenden als auch beim Protagonist die gleichen Hirnareale aktiviert werden. Dies führte zu der Schlussfolgerung, dass wir bewusstan den Emotionen Anderer teilhaben können. In Studien mit erfahrenen Meditierenden versus Meditationsneulingen wurde jedoch die Aktivierung von abweichenden Arealen festgestellt, wenn die erfahrenen Meditierenden beim Hören von leidenden Stimmen liebende Güte praktizierten. Die Neurowissenschaftlerin Tanja Singer hat gemeinsam mit dem buddhistischen Mönch Matthieu Ricard eine bemerkenswerte Untersuchung durchgeführt, in der Ricard verschiedene geistige Aktivitäten ausführte, während dessen Hirnaktivität durch eine Online-Visualisierung sichtbar gemacht wurde. Die Forscher baten Ricard sich in unterschiedliche Zustände des Mitgefühls zu versenken (nichtreferenzielles Mitgefühl, Mitgefühl für das Leid anderer und liebende Güte). Alle Zustände lösten die Aktivierung ähnlicher Gehirnareale aus, allerdings waren diese ganz anders als beim zuvor erforschten Schmerzempathie Netzwerk. Auch war sein Erfahrungsbericht über die Teilhabe am Schmerz Anderer frei von negativen Gefühlen, sondern zeigte einen warmen, positiven Gefühlszustand, der stark prosozial geprägt war. In einem nächsten Schritt baten die Forscher Ricard, sich wiederum emotional mit dem Leid anderer zu konfrontieren, ohne jedoch in den Zustand des Mitgefühls zu gehen. Die Ergebnisse waren zur großen Überraschung der Forscher identisch mit den bereits langjährig angelegten Schmerz Empathie Studien. (Vgl. Klimecki, Ricard, Singer, S. 283 ff.) Ricard beschreibt sehr eindrücklich seine subjektive Erfahrung:

Ich hatte am Abend vorher eine BBC-Dokumentation über diese extrem vernachlässigten Waisenkinder gesehen und war sehr berührt von ihrem Schicksal. Obwohl diese Kinder jeden Tag zu essen bekommen und gewaschen werden, waren sie vollständig ausgemergelt und emotional verwaist. Der Mangel an Zuwendung hatte bereits schwerwiegende Apathie- und Vulnerabilitätssymptome verursacht. Viele Kinder bewegten stundenlang ihren Oberkörper vor und zurück und ihr Gesundheitszustand war so schlecht, dass in diesem Waisenhaus Todesfälle auf der Tagesordnung standen. Selbst beim Waschen zuckten viele dieser Kinder vor Schmerzen zusammen, denn selbst die kleinste Kollision konnte schon zu einem gebrochenen Arm oder Bein führen. Als ich mich in empathische Resonanz versenkte, visualisierte ich das Leiden dieser Waisenkinder so lebendig wie möglich. Das empathische Teilhaben an ihrem Schmerz wurde für mich sehr schnell unerträglich. Ich fühlte mich emotional erschöpft, sehr ähnlich dem Gefühl des Ausgebranntseins. Nach ungefähr einer Stunde empathischer Resonanz wurde ich vor die Wahl gestellt, mich in Mitgefühl zu versenken oder den Vorgang zu beenden. Und weil ich mich nach der empathischen Resonanz so ausgelaugt fühlte, willigte ich ohne Zögern in einen Wechsel zur Mitgefühlsmeditation unter Fortsetzung des Gehirnscannens ein. Beim nachfolgenden Versenken in die Mitgefühlsmeditation veränderte sich mein seelischer Zustand dann völlig. Obwohl die Bilder der leidenden Kinder noch genauso lebendig vor mir standen wie vorher, lösten sie keine Qual mehr aus. Stattdessen fühlte ich eine natürliche und grenzenlose Liebe für diese Kinder und den Mut, mich ihnen zu nähern und ihnen Trost zu spenden. Außerdem war die Distanz zwischen den Kindern und mir vollständig verschwunden. Und in diesem Moment erkannten wir das immense Potenzial des Mitgefühls als Gegenspieler zu em- pathischem Leid und Burnout. (Klimecki, Ricard, Singer, S. 289)

Dieses Experiment ermöglichte den Forschern verblüffende Schlussfolgerungen über Empathie als möglicher Vorläufer von Burnout zu ziehen. Wenn das Einfühlen in leidvolle Erfahrungen Anderer stark negative Emotionen hervorruft, kann das gerade für Menschen in helfenden Berufen (beispielsweise Pflegende und Ärzte) kritisch werden. Aber auch im privaten Umfeld sind wir immer wieder mit Leid konfrontiert. Jeder von uns kennt Gefühle von Überforderung oder Hilflosigkeit, wenn es um das Leid von nahen aber auch weniger nahestehenden Personen geht. Das bewusste Praktizieren von Mitgefühl stellt hierbei scheinbar eine enorme Perspektive und Strategie dar. Demnach scheint es nicht nur die konfrontierte Person zu schützen, indem warmherzige anstatt aversiver und hilfloser Ge-fühle hervorgerufen werden, sondern aktiviert auch prosoziales Verhalten, wie den Wunsch zu helfen und zu trösten. Das Forschungsteam untersuchte im Anschluss, inwiefern auch bei Ungeübten, die ein kurzzeitig angelegtes Training in Metta Meditation erhielten, ähnliche Erfolge festzustellen seien: „Das Team kam zu dem Ergebnis, dass sich das helfende Verhalten gegenüber Fremden nach einem mehrtägigen Metta-Training verstärkte. Interessanterweise intensivierte sich das altruistische Verhalten umso stärker je länger Teilnehmer die Liebende-Güte-Meditation praktizierten.“ (Klimecki, Ricard, Singer, S. 290.) Auch alle weiteren Studien belegen, dass durch die Kultivierung von Mitgefühl positive Emotionen von Liebe und Zugehörigkeit verstärkt werden, während ein gleichbleibender negativer Affekt verzeichnet wird. Das bedeutet, dass Mitgefühl nicht zur Verleugnung von Leid führt, sondern trotz dem Gewahrseins des Leids der anderen Person, positive Emotionen erlebt werden. Mitgefühl kann somit als trainierbare Strategie wirken, die die eigene Resilienz stärkt, positive Emotionen auslöst und prosozial wirkt. (Vgl. Klimecki, Ricard, Singer, S. 294)

Interessant wird es, wenn wir diese Forschungsergebnisse als Konzept des Zusammenlebens in unserem kapitalistisch ausgerichteten System hinterfragen. Unsere globalisierte, ökonomische Welt funktioniert auf der Basis von Gewinnen – Verlieren, einfach ausgedrückt bereichern wir uns an den Ressourcen anderer Länder, demzufolge haben diese weniger. Ein mitgefühlsbasiertes Konzept scheint uns an dieser Stelle jedoch eine Win Win Situation zu ermöglichen und ein anderes gesellschaftliches Miteinander vorzuschlagen. Gerade aus einer westlich weißen Sichtweise erleben wir eine Welt, die auf Individualismus basiert. Zeit unseres Lebens sind wir damit beschäftigt ein Konzept unseres Ichs zu erschaffen und dieses mit den Kategorien Beruf, Partner, sexueller Orientierung, Familienkonstrukt etc. zu repräsentieren. Genau bei diesem Verständnis, dieser Ich Konstruktion heißt es anzusetzen. Mitgefühl beginnt beim eigenen Selbst.

2.2.2 Selbstmitgefühl versus Selbstwert

Fast jeder von uns kennt Erfahrungen des Scheiterns, oder war mal heftiger Kritik ausgesetzt. Was passiert? Wir fühlen uns wertlos, als gescheiterte Existenz, als Verlierer, denn in diesem Moment wird unser Konstrukt vom Ich in Frage gestellt. Warum können wir nicht einfach diese momentane Erfahrung annehmen als Moment von Trauer oder Angst oder Wut oder was auch immer die emotionale Entsprechung sein mag? Weil unsere Gedankenwelt und jeder Gedanke, der sagt „Du bist das Scheitern“, „Du bist schuld“ so eine immense Kraft hat. Aber jeder Gedanke ist wiederum nur eine Abbildung, eine Repräsentation, eine Projektion. Wären wir in der Lage unser Bewusstsein auf die momentane Empfindung auszurichten und diese noch mit einer liebevollen Haltung zu betrachten, hätte das Erlebte eine ganz andere, eine deutlich weniger vehemente Kraft oder sogar Macht über uns.

Eine buddhistische Perspektive setzt Leid als universelle menschliche Erfahrung voraus. Sie sieht aber auch in gleichem Maße die Beseitigung des Leids als natürlich und möglich an. „Nicht richtig zu verstehen, wie unser Verstand eine Illusion von der Wirklichkeit erzeugt, wird als Hauptursache von Leid betrachtet.“ (Harngartner, S. 162) Wenn die Hauptursachen von Leid in Verblendung, Illusion, falschen mentalen Konstrukten liegen, dann bieten kontemplative Praktiken wie Meditation ein enormes Potential diese zu durchbrechen. Jede Meditationhat das Ziel von Transformation, die tief verinnerlichte Gewohnheiten, die oftmals selbstschädigend wirken, zu verändern und durch positive, gesunde zu ersetzen. Sich seiner Selbst gewahr werden, die Art wie wir uns sehen, mit uns reden, mit uns umgehen etc. steht dabei an erster Stelle. An zweiter Stelle tritt die Motivation diese Gewohnheiten zu verändern.

Die Autorin und Professorin Kristin Neff hat gemeinsam mit dem Psychologen Christoph Germer den Begriff Selbstmitgefühl geprägt. Neff, als amerikanische Forscherin, die sich intensiv mit dem Buddhismus auseinandergesetzt hat, definiert Selbstmitgefühl als aus drei Hauptelementen bestehend: „Güte, ein Sinn für gemeinsames Menschsein (common humanity) und Achtsamkeit.“ (Neff, Germer, S. 301) Selbstmitgefühl ist gerade dort von Bedeutung, wo wir mit eigenen leidvollen Erfahrungen konfrontiert sind, wie Misserfolge, Kritik oder Scheitern. Der Achtsamkeitsaspekt darin schult uns, schmerzvolle Gedanken und Emotionen zum Einen wahrzunehmen, anstelle sie zu unterdrücken oder zu vermeiden. Zum Anderen schützt Achtsamkeit vor einer „Überidentifikation“ – im Sinne von „wir sind der Fehler“.(Vgl. Neff, Germer, S. 304) Studien belegen, dass ein hohes Selbstmitgefühl vor Angst und Depression schützt. Damit hängt u.a. zusammen, dass selbstmitfühlende Menschen weniger an Selbstkritik (als Parade Vorläufer für Depression) leiden. Vielmehr nehmen diese ihre Fehler, als menschlich an und begegnen ihnen mit Güte, was vor negativen Gedankenspiralen bewahrt. Gleichzeitig sind sie „eher bereit, schwierige Gefühle zu erleben und sie als zulässig und wichtig anzuerkennen. Das Schöne am Selbstmitgefühl ist, dass nicht einfach negative Gefühle durch positive ersetzt werden, sondern neue positive Emotionen der Anteilnahme und Verbundenheit durch die Annahme der negativen erzeugt werden, sodass beide gleichzeitig erlebt werden können.“ (Neff, Germer, S. 308)

In westlichen Kulturkreisen, aber insbesondere in den USA hat der Begriff des Selbstwertgefühls (self-esteem) einen hohen Stellenwert. Demnach sind wir von klein auf darauf bedacht unseren Selbstwert zu stärken, denn wenn dieser stark ausgeprägt ist – wir uns wert fühlen – vermeintlich seltener in Ängste oder Depressionen rutschen. Problematisch können dabei v.a. Mechanismen werden, um das Selbstwertgefühl zu erlangen oder zu erhöhen. Nicht selten funktioniert das über das Vergleichen mit Anderen oder das Klein machen dieser. Demnach ist das Selbstwertgefühl davon abhängig, wie besonders und überdurchschnittlich man ist, also davon wie wir im Vergleich zu Anderen performen und ob wir Erfolge oder Misserfolge erzielen. Das Selbstmitgefühl wirkt jedoch genau dann, wenn das Selbstwertgefühl ins Wanken kommt. Neff betont:

„Anders als beim Selbstwertgefühl hängen die mit Selbstmitgefühl verbundenen gesunden Seelenzustände allerdings nicht von positiven Selbstbewertungen, von der Erfüllung festgelegter Standards oder von günstig ausfallenden Vergleichen mit anderen ab. Sie erwachsen stattdessen aus der Anerkennung der Notwendigkeit, freundlich zu sich selbst zu sein, wenn man Leid erfährt, und das eigene Erleben im Lichte der Erkenntnis zu betrachten, dass wir alle Menschen sind – so fragil und unvollendet wir auch sein mögen.“ (Neff, Germer, S. 308)

Gemeinsam haben die Autoren ein komplexes Trainingsprogramm entwickelt, um das Selbstmitgefühl zu stärken.

2.3 Die Praxis der Metta Meditation

Die vorliegende Abschnitt über die praktische Ausführung zur Kultivierung von liebender Güte und Mitgefühl erhebt in keiner Weise einen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch hätte ich gerne Programme zu compassion Training und self compassion Training vorgestellt, was jedoch leider für den Umfang der Arbeit unmöglich ist. Daher beziehe ich mich auf Methoden, mit denen ich selber Erfahrung habe bzw. ergänzende Konzepte, die ich als inspirierend und schlüssig betrachte.

ACHTSAMKEIT

Wie bereits erwähnt ist die Metta Meditation eng mit der Achtsamkeitspraxis verbunden und die darin kultivierten Qualitäten bedingen, stärken und ergänzen die Herzmeditation. Egal welcher Anleitung man folgt, vorherrschender Konsens ist zunächst eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit – sei es auf den Atem, sei es ein Body Scan. Bei der Sitzhaltung wird hierbei insbesondere Wert gelegt, dass die Haltung aufrecht und ENTSPANNT ist, keinerlei Schmerzen verursacht und die Blutzirkulation in den Beinen beispielsweise durch eine gekreuzte Haltung nicht abgeschnitten wird.

DAS HERZ ÖFFNEN

Bevor mit Mantras oder bestimmten Sätzen gearbeitet wird, sollte ein Zugang zum Herzen hergestellt werden bzw. ein positives, warmes, wohlwollendes Gefühl aufrichtig erspürt werden. Dafür macht es Sinn die Konzentration auf den Herzraum zu lenken. Dabei kann der intuitive, gefühlte Herzraum vom anatomischen Sitz des Herzens zuweilen stark abweichen. Sollte sich ein Gefühl von Weite und Wärme nicht automatisch einstellen, kann man mit Bildern oder Atemführung arbeiten, wie beispielsweise ein wärmendes Licht, das die Poren öffnet und das Blut leicht und ungehindert fließen lässt. Oder das Herz entspannen und ein wenig lächeln lassen. Ein weiterer Zugang kann sein sich an einen Moment zu erinnern, in dem man tief berührt war. Menschen, die gerne mit Visualisierungen arbeiten, können sich auch eine Blüte im Herzraum vorstellen, die sich langsam öffnet. Andere lassen in der Vorstellungskraft einen Menschen präsent werden, dem sie große Zuneigung entgegen bringen und bei dessen Anblick sich sofort ein Gefühl von Freude einstellt. Vielleicht ein Kind, vielleicht ein wohlwollender Mentor.

DIE 4 SÄTZE DER METTA MEDITATION

Die traditionelle Metta Meditation stellt vier Sätze ins Zentrum, die als universell zutreffende Wünsche fungieren:

  1. Möge ich glücklich sein.
  2. Möge ich sicher sein vor inneren und äußeren Gefahren.
  3. Möge ich gesund sein.
  4. Möge ich unbeschwert leben, (im Sinne von eigenständig und unabhängig für sich selbst sorgen können) (Vgl. Mannschatz, Baur, S.40)

Diese vier Überlieferungen können je nach Kontext und Lehrer leichte Variationen erfahren. Der zweite Satz wird beispielsweise häufiger folgendermaßen variiert: „Möge ich mich sicher und geborgen fühlen“, der vierte Satz „Möge ich frei sein“. Auch hierbei geht es in erster Linie darum die Wünsche zu spüren. Vimalaramsi betont: „Das Schlüsselwort ist hier aufrichtig. Ist dein Wunsch nämlich nicht aufrichtig, dann wird er zu einem Mantra, das heißt zu einer mechanisch wiederholten Phrase ohne echte Bedeutung.“ (Vimalaramsi, S.3)

VOM ICH ZUM DU: DANKBARKEIT

Diese vier Herzenswünsche spricht man zunächst einige Minuten zu sich selber, bevor man zu einer nahe stehenden Person über geht. Die buddhistische Tradition schlägt einen spirituellen Lehrer/ einen Mentor vor, dem man diese Wünsche mit einem Gefühl von Dankbarkeit im selben Wortlaut entgegenbringt: „Mögest du glücklich sein“ etc. In unseren Breitengraden stehen wir jedoch seltener mit dieser Tradition in Berührung. Oftmals wird direkt zu einer nahestehenden Person übergangen, z.B. die engsten Familienmitglieder. Auch hier geht es wieder um ein lebendiges Hineinversetzen. Es kann helfen sich die gewählte Person so deutlich wie möglich vorzustellen, ihr Wesen und ihre Ausstrahlung präsent werden zu lassen. Mannschatz schlägt vor einen Herz-zu-Herz-Kontakt herzustellen, indem man sich ein wärmendes Licht vorstellt, das zwischen dem eigenen und dem Herzraum des Gegenübers hin und her fließt. (Mannschatz, Baur, S. 58f.) Das wichtigste bleibt jedoch das Gefühl der liebenden Güte. Vimalaramsi rechnet diesem 70 Prozent an Wichtigkeit zu, 20 Prozent für den Wunsch und das Fühlen des Wunsches im Herzen und nur etwa 10 Prozent für die Visualisierung. (Vimalaramsi, S. 12) Eine weitere und sehr einfache Hilfestellung ist lächeln. Die Stellung der Lippen korreliert unmittelbar mit der mentalen Verfassung. So ist diese Übung auch so häufig wie möglich im Alltag anzuwenden, bei welcher Tätigkeit auch immer, d.h.: „Liebe senden, Lächeln und den aufrichtigen Wunsch spüren.“ (Vimalaramsi, S. 15) Ausgehend von dieser nahe stehenden Person, geht man über zu einem Freund, einer Freundin. Menschen, die man kennt und mag und verfährt in gleicher Weise.

IM UNBEKANNTEN GROßZÜGIGKEIT LERNEN

In einem nächsten Schritt schickt man die Herzenswünsche an Fremde. Diese konkrete Person kann jemand sein, dem man im Alltag begegnet, aber zu der man keine besondere Beziehung pflegt, z.b. der Kassierer an der Kasse, die Hausmeisterin, der Obdachlose in der eigenen Straße. Jemand, zu dem man ein neutrales Verhältnis hat. Wir mögen hier zwar weniger mit inneren Bewertungen, aber dafür vielleicht mehr mit Desinteresse konfrontiert sein. Die Freundlichkeit und das Wohlwollen, die wir bisher an uns nahe stehenden Personen gerichtet haben, haben hier zunächst weniger Grund. Und genau darum geht es. Letztendlich üben wir uns darin universelle Liebe zu empfinden und auszusenden. Das bedeutet Liebe, die nicht an eine bestimmte Person geknüpft ist und damit auch nicht mit eigenen Erwartungen, Bedürfnissen, Wünschen, Ängsten zusammenhängt. Mein Partner, mein Kind, meine Freundin sind nach buddhistischem Verständnis sowieso nur Kategorien, die die Identifikation mit dem eigenen Ego nähren. Liebe ist nichts was man bekommen kann, „wenn man Liebe verspüren will, muss man selbst lieben.“ (Khema, S. 167) Eine solche Liebe, die frei von Bedingungen ist, wird zur selbstlosen, nichts erwartenden Liebe: „Liebe, die nichts verlangt, ist viel reiner und stärker und gibt dem anderen viel mehr.“ (Khema, S. 167) Ging es im vorherigen Schritt um Dankbarkeit, ist das Thema hier Großzügigkeit. Großzügig sein, bedeutet geben, ohne zu erwarten. Wenn wir nun Unbekannten etwas geben, sei es materieller Art – wie dem Obdachlosen eine Münze – sei es spiritueller Art, unterlaufen wir automatisch die Idee des isolierten Getrennt-Seins voneinander (ich und die anderen). Und nicht nur das. Gleichzeitig üben wir uns im Loslassen. Mannschatz betont, dass es dabei nicht darauf ankommt, was wir geben, sondern vielmehr auf die Auseinandersetzung mitdem gewohnten Haben- und Besitzen- Wollen: „Die Übung des Gebens zeigt Ihnen genau, woran Sie sich klammern. Und mit jeder Geste von Großzügigkeit lernen Sie, ein wenig Ihr gewohntes Festhalten aufzugeben.“ (Mannschatz, Baur, S. 80)

SCHMERZVOLLES INTEGRIEREN: DIE KUNST DER VERGEBUNG

Der letzte und vielleicht schwierigste Schritt, bevor die Wünsche nochmal an alle Lebewesen gerichtet werden, beschäftigt sich mit den eigenen Verletzungen, Schattenseiten, unangenehmen Empfindungen. Aus buddhistischer Sicht gilt eine schwierige Beziehung als wertvollste Übungsgrundlage. Es gibt Menschen, die triggern ganz bestimmte Emotionen in uns, lassen uns wütend oder traurig werden, sogar Verzweiflung spüren. An erster Stelle geht es natürlich darum diese Emotionen zu spüren und nicht zu verdrängen. Hilfreich kann beispielsweise sein, den Schmerz körperlich zu lokalisieren. Dadurch ermöglicht man die destruktive Gedankenspirale zu durchbrechen, ohne den Schmerz zu verdrängen. Was sind die eigenen Themen, die durch die Konfrontation ausgelöst werden? Welche positiven Wünsche können sich daraus ableiten? Auch mit der „schwierigen Person“ verfährt man auf gleiche Weise, wobei empfohlen wird behutsam und nicht direkt mit der größten Herausforderung zu beginnen: nachdem ein Herz zu Herz Kontakt hergestellt wurde, werden auch hier die 4 Sätze zu einer aufrichtigen Widmung. Vielleicht gelingt eine solche liebevolle innerliche Kommunikation mit der gewählten Person nicht sofort.

Es kann hilfreich sein, sich noch einmal den universellen Wunsch nach Glück vor Augen zu führen. Alle Menschen streben nach Glück. Aber dieses Streben ist oft ein Unbewusstes. Der verletzenden Handlung des Gegenübers liegt etwas zugrunde. Es macht Sinn sich ins Bewusstsein zu rufen, dass verschiedene Faktoren zu diesem Verhalten beigetragen haben. Warum handelt diese Person so? Leid erzeugt Leid. Einsicht und Verstehen hilft enorm bei der Kultivierung von Liebe und Mitgefühl. Und es hilft in gleicher Weise beim Kultivieren von Mitfreude, dem Pendant zu Mitgefühl (vgl. die vier Brahmaviharas), dem oft unser Stolz und Neid im Wege steht.

Manchmal verletzen wir ohne es zu wollen und sogar ohne es zu merken. Ein wichtiger Aspekt ist Vergebung – für sich selbst und für andere. Vergebung setzt ein Verständnis für Unvollkommenheit – die eigene und die der Anderen – voraus. Unvollkommenheit ist Menschlichkeit und ein mitfühlendes Annehmen dieser kann einen enormen Heilungsprozess in Gang setzen. Der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu hat ein ganzes Buch zu Vergebung geschrieben: „Vergebung ist die Reise, die wir unternehmen, um das Gebrochene, das Wunde und Zerrissene zu heilen.“ (Gerstenberg, Desmond, deutschland-funk.de) Im Gegensatz zum Vergessen bedeutet Vergebung Integration und erfahrbare Weisheit.

MITGEFÜHL UND GLEICHMUT

Die hier beschriebenen Schritte mögen helfen das Herz zu öffnen und ein Stück in die Richtung der Kultivierung von Liebe zu gehen, die frei von Erwartungen ist. Sie mögen helfen nicht weg zu sehen beim eigenen und dem Leid der Anderen, sondern dieses als menschlich ansehen. Eine Menschlichkeit die alle verbindet und die erlaubt zu vergeben und zu heilen. Aber so schön es klingt, so schwer ist die Kultivierung all dieser Qualitäten. In erster Linie erfordert ein solcher Weg eine große Portion Geduld und Großzügigkeit mit sich selbst. Denn es bedeutet all die Widerstände, all die schwierigen inneren Erfahrungen anzunehmen, um sie letztendlich zu überwinden. Dieses Annehmen und Wissen um stete Veränderung ist eine fortdauernde Übung in Gleichmut. Schritt für Schritt.

3. Abschließende Worte: mit dem Herzen verstehen

Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha

Prajnaparamita Mantra

gegangen, gegangen, ans andere Ufer gegangen, gänzlich hinüber gelangt – ERWACHEN, svaha!*

Diese Arbeit hat den Versuch unternommen, das Prinzip von liebender Güte und Mitgefühl als Konzept und als zu kultivierende Praxis zu untersuchen. Am Ende dieser Recherche möchte ich zwei Aspekte betonen, die sich für mich persönlich herauskristallisiert haben: spüren und verstehen. Mit Spüren meine ich ein Bewusstsein für den Herzraum, als Sitz für Empfindungen von Liebe, von Mitgefühl, aber auch von Schmerz. Dieses Bewusstsein möchte ich als Ursprung für die Kultivierung nennen. Es bedeutet in erster Linie den Empfindungen Raum zu geben, zuzuhören, sich ihnen zuzuwenden. Und es ist eine anteilnehmende, eine achtsame, eine liebevolle Zuwendung. Diese ist möglich aus einem tiefen Verständnis für die eigene Menschlichkeit. Und aus diesem Verständnis kann eine andere Haltung für ein Miteinander wachsen.

Das englische Verb „comprehend“, abgeleitet aus dem lat. „cum“, „eins sein mit“ und dem Infinitiv „prehendere“ „ergreifen“, beschreibt den Vorgang von eins werden, indem wir das Etwas ergreifen. Laut dem vietnamesischen Zen Meister Thich Nhat Hanh heißt Lieben wirklich verstehen „Wenn wir etwas verstehen wollen, sollten wir es nicht nur beobachten. Wir sollten tief hineintauchen und eins werden damit, um es wirklich zu verstehen. Wollen wir einen Menschen verstehen, so müssen wir seine Gefühle fühlen, sein Leiden leiden und seine Freude genießen.“ (Thich Nhat Hanh, S. 27) Wenn dieses liebende, anteilnehmende Verstehen in Mitgefühl geschieht, stellt es ein enormes Potential dar, wie uns die Forschung bestätigt hat. Im Gegensatz zu Empathie als reines Leiden des Leids, vermag eine Haltung des Mitgefühls nicht nur vor Burnout zu schützen, sondern auch als Auslöser für prosoziales Verhalten dienen.

Prajnaparamita bedeutet Vollkommenes Verstehen. Die oben zitierten Zeilen sind der letzte Teil des Herz Sutras, das zu den Prajnaparamita Sutras gehört und einer der bekanntesten Texte aus dem Mahayana Buddhismus darstellt (die Prajanaparamita Literatur ist eine sechshundertbändige Bearbeitung der Lehren Buddhas). Inhaltlich beschreibt das Herz Sutra den erleuchteten Zustand vollkommener Weisheit, in dem alles Eins wird, das individuelle Selbst mit dem Universalen verschmilzt und im reinen Gewahrsein weilt. Alles, was unserVerstand und unsere Sinne wahrnehmen, wird als illusorisch entlarvt.

Eine zentrale These des Buddhismus beschreibt das Konstrukt des Egos als feste Einheit als Illusion – und als Ursache für Leid. Diese Illusion lässt sich in dem Motto „Ich gegen die Anderen“ zusammenfassen. Die daraus resultierende Ich Zentriertheit, heißt es zu entlarven und letztendlich zu überwinden. Dann öffnen wir automatisch unser Herz, für uns und für andere. Das Herz zu öffnen, bedeutet die Augen öffnen für eine Welt, die ein einziges Beziehungsgeflecht ist. Der buddhistische Mönch, Philosoph und Humanmediziner Barry Kerzin nennt dieses Geflecht, das uns in ständiger Wechselwirkung mit unserer Umwelt stehen lässt, Interdependenz: „Die Weisheit der Interdependenz verbindet uns wieder mit den anderen.[…]ln erster Linie bedeutet Interdependenz, dass unser eigenes Glück mit dem anderer verknüpft ist. Die Fürsorge für andere wird auf diese Weise zu einer wichtigen Fürsorge für uns selbst.“ (Kerzin, S.176)

In den zwei Wochen, in denen ich mich intensiv mit diesem Thema beschäftigt habe, hat sich mein Blick auf meine Mitmenschen verändert. Es war ein verständnisvollerer Blick, genährt durch das Konzept der Interdependenz. Am Ende dieser zwei Wochen bin ich auch an meine eigenen Grenzen gestoßen und habe die Notwendigkeit des Selbstmitgefühls, als Grundlage jeglicher mitfühlender Flaltung meiner Mitmenschen am eigenen Leibe erfahren. Als stillende und damit auch ständig gebende Mutter, zwischen Arbeitstreffen und unter Zeitdruck, in der Konfrontation mit Tobsuchtsanfällen meiner Tochter und körperlichem Leid von engsten Familienmitgliedern habe ich den dünnen Faden zwischen Ja wollen und Nein sagen müssen reißen sehen. Ich habe das Burnout Potential der Empathie gerochen und Geduld als besten Freund und Verbündeten des Mitgefühls auserkoren. Und ein ums andere Mal verstanden, dass der Frieden bei einem selbst beginnt.

Mitgefühl ist mehr als ein bloßes Werkzeug, eine Fähigkeit, die einzusetzen ist, solange sie nötig ist. Mitgefühl ist vor allem eine Seinsweise, die es zu kultivieren gilt. Mitgefühl und Weisheit sind zwei Seiten der selben Medaille. Dann wird Liebe zum Verstehen und zum wechselseitigen Prinzip, die es jeden Tag und jeden Augenblick erneut zu kultivieren gilt: „Im Licht des wechselseitigen Durchdringens, des Interseins, bedeuten Frieden und Glück in unserem eigenen täglichen Leben auch Frieden und Glück in der Welt.“ (Thich Nhat Hanh, S. 75f.)

Mögen alle Wesen glücklich sein.

* das Mantra kann sinngemäß übersetzt werden mit „Wer von diesem vergänglichen und leidvollen Dasein weggegangen ist, nach innen gegangen ist, ans andere Ufer gegangen und gänzlich hinübergelangt ist, der wird völlig und irreversibel erwachen—aaah, welche Glückseligkeit!“, siehe: https://de.wikisource.org/wiki/ Herz-Sutra. zuletzt aufgerufen am 2.6.2018

Quellen

Harngartner, Diego. Menschliches Leid und die Vier Unermesslichen. Eine buddhistische Perspektive auf Mitgefühl. In Singer, Tanja/ Bolz, Matthias (Hrsg.). (2013). Mitgefühl in Alltag und Forschung. München: Max Planck Society

Kerzin, Barry. Selbst, Interdependenz und Weisheit: Eine kontemplative Perspektive, i In Singer, Tanja/ Bolz, Matthias (Hrsg.). (2013). Mitgefühl in Alltag und Forschung. München: Max Planck Society.

Khema, Ayya. (2013). Meditation ohne Geheimnis. Uttenbühl: Jhana Verlag.

Klimecki, Olga/ Ricard, Matthieu/ Singer Tanja. Empathie versus Mitgefühl. Erkenntnisse aus Erste- Person- und Dritte-Person Methoden. In Singer, Tanja/ Bolz, Matthias (Hrsg.). (2013). Mitgefühl in Alltag und Forschung. München: Max Planck Society.

Mannschatz, Marie / Baur, Angelika (2015). Buddhas Herzmeditation. Mit Achtsamkeit zu Selbstliebe und Mitgefühl, München: Gräfe und Unser Verlag GmbH.

Neff, Kristin/ Germer, Christof. Freundlich zu sich selbst sein. Die Wissenschaft des Selbstmitgefühls. In Singer, Tanja/ Bolz, Matthias (Hrsg.). (2013). Mitgefühl in Alltag und Forschung. München: Max Planck Society.

Singer, Tanja/ Bolz, Matthias (Hrsg.). (2013). Mitgefühl in Alltag und Forschung. München: Max Planck Society.

Thich Nhat Hanh. (2011). Mit dem Herzen verstehen. München: Droemer Knaur.

Internetreferenzen

Bodhibaum 1 http://www.bodhibaum.net/rituale&aedichte/metta.htm. zuletzt aufgerufen am 31.5.2018

Bodhibaum 2 https://www.buddhaland.de/lexicon/entrv/141-metta/. zuletzt aufgerufen am 31.5.2018

Gerstenberg, Ralph. Desmond Tutu. Versöhnung ist nichts für Weichlinge, aus http://www.deutschland- funk.de/desmond-tutu-versoehnuna-ist-nichts-fuer-weichlinae. 1310.de.html?dram:article id=287587. zuletzt aufgerufen am 8.6.2018

Vimalaramsi, Bhante. Kurze Anleitung zur liebenden Güte Meditation, aus http://librarv.dhammasuk- ha.ora/uploads/1/2/8/6/12865490/metta-aer-2006.pdf. zuletzt aufgerufen am 31.5.2018

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